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Luft anhalten in der Deutschen Bahn

Wenn es sich partout nicht vermeiden lässt, verbringt man Zeit in einem Waggon der Deutschen Bahn – sofern nicht der komplette Zug wegen betriebsbedingter Störungen ausfällt oder so verspätet bereitgestellt wird, dass man seinen Ärger längst zu überhöhten Preisen an einer Bar in Bahnhofsnähe ertränkt.

Was das Verhältnis zu dieser Form der Fortbewegung darüber hinaus immer wieder stört, ist der den Triebwagen innewohnende, geradezu unglaubliche Geruch.

Wiewohl es heutzutage durchaus üblich ist, die olfaktorische Wahrnehmung der Kundschaft durch angenehme Dufterlebnisse so zu beeindrucken, dass sich die Menschen wohlfühlen und, günstigstenfalls, mehr Umsatz generieren, geht die Deutsche Bahn hier einen sehr unkonventionellen Weg.


Mir ist nicht bekannt, wie sich die Situation in den Zügen anderer Bundesländer darstellt, da ich auch diese im Allgemeinen strikt zu vermeiden trachte, aber in Schleswig-Holstein ist seit Jahrzehnten Stallgeruch Duft der Saison. Genaugenommen aller Saisons. Im Sommer stickig und betäubend, im Winter abgestanden und beißend, in Frühjahr und Herbst in umgekehrter Reihenfolge. Und zwar mit Lüftung und auch ohne. Es riecht unaufhörlich nach etwas, das wir nie im Leben äßen, wären wir einigermaßen bei Trost: Nach Rindvieh. Genauer gesagt nach Rindviehtransport. In den Wagen für die Personenbeförderung.

Das mag insofern nicht weiter verwunderlich sein, als das Unternehmen Bahn die Gewichtsmasse aller Fahrgäste eines Zuges als Fleischgewicht bezeichnet.


„Fleischgewicht ist die addierte Masse aller Fahrgäste in einem Zug.“ Das ist offizieller Bahnwortschatz.

„Fleischgewicht ist die Masse an verzehrbarem Fleisch, die von einem Tier gewonnen werden kann.“ Das ist offizieller Schlachthofwortschatz.

Da tut sich durchaus eine gewisse Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier auf.


Fleischgewicht. Eine atemberaubend appetitliche Vokabel, allerdings zu gelassen ausgesprochen, denn es gibt in diesem Zusammenhang fortwährend Malheurs bei der Bahn. Es werden, zum Beispiel, Brücken gebaut oder saniert, die zwar für das Gesamtgewicht von Zügen berechnet werden, bei deren Kalkulation das Fleischgewicht aber gern mal versehentlich unter den Tisch fällt. Das ist dann Pech, und die Passagiere müssen vor der jeweiligen Brücke aussteigen.

Man mag angesichts der Fahrgäste, die sich, unwidersprochen, Fleischgewicht nennen lassen und dafür auch noch ein Beförderungsentgelt bezahlen, bahnseitig davon ausgegangen sein, dass auch das im Zug vorherrschende Aroma etwas mit körperlichem, irdischem Verfall zu tun haben sollte, damit alles eine geschmackliche Einheit bildet.

Dafür ist eine sauteure Werbeagentur zuständig. Und man muss feststellen, dass dieses Bouquet der Zersetzung mit erheblichem unternehmerischem Erfolg einhergeht. Die Deutsche Bahn und ihre Einrichtungen, die seit Ewigkeiten den Charme von in Flaschen abgefüllter Tristesse verströmen, schreiben stetig wachsende Fahrgastzahlen. Angeblich. Ein deutsches Mysterium.

Und offenbar wissen die Marketingprofis, die uns dieses sinnliche Erlebnis im Auftrag der Bahn wieder und wieder inhalieren lassen, dass das Duftdesign eines Konzerns einfach unvergleichlich und prägnant bleiben muss. Eau de Gülle! Danke! Merci bo Kuh!


Eines erbaulichen Tages sitze ich also in einem dieser besagten Stinker mit Rädern untendran. Es ist ein Wagen ohne Einzelabteile mit blau karierten Sitzen und teils integrierten, fest verschraubten Tischen, an denen jeweils vier Personen Platz nehmen können, sofern ihr Fleischgewicht nicht zu ausladend und der Zwischenraum von Sitzplatz zu Tisch genügend groß ist. Beleibtere Personen kennen das Thema von den aufdringlichen Klapptabletts in der Holzklasse von Flugzeugen.

Jenseits des Ganges im Zug können sich zwei weitere Personen gegenübersitzen, ebenfalls durch einen kleinen Tisch getrennt.


Es ist noch Zeit bis zur Abfahrt. Wir befinden uns an einem Wendebahnhof, und die Plätze füllen sich eher langsam.

Ein älteres Paar verstaut wortlos ein Köfferchen unter dem Zweiertischchen und setzt sich.

Die beiden sehen sich ähnlich. Beige Jacken, graue Hosen, weiße Haare, fast identische Brillen, die gleichen schmalen Goldringe und Münder. Man sagt ja, dass sich Menschen, deren gemeinsame Zeit über ein gewisses Maß hinausgeht, optisch immer mehr angleichen.

Ich persönlich verfüge hier über keinen nennenswerten Erfahrungsschatz, da es mir bisher immer gelungen ist, die in Frage stehende Spanne zu unterschreiten. Wer möchte schon, dass einem jemand ähnlich wird, nur weil in grauer Vorzeit der Kalender erfunden wurde.

Die Dame sitzt in Fahrtrichtung und verfügt über eine Frisur in Blumenkohlform. Der Herr trägt einen tadellosen Fassonschnitt auf rosiger Kopfhaut. Das Paar sieht regungslos aus dem Fenster.


Es ist später Nachmittag. Der Zug müsste inzwischen längst unterwegs sein, ist es aber nicht. Eventuell eine neue, hippe und kostenlose Serviceleistung der Bahn: Viele atemlose Fahrgäste steigen noch schnell ein und seufzen erleichtert.


Auch die Plätze am Vierertisch gegenüber füllen sich nach und nach. Junge Menschen auf dem Nachhauseweg. Vermutlich kommen sie von der Arbeit. Drei Männer, eine Frau. Sie lassen sich in die Polster fallen, holen Getränke oder Snacks heraus und widmen sich ihren Mobiltelefonen. Es ist offensichtlich, dass sie sich nicht persönlich kennen.

Endlich setzt sich der Zug in Bewegung. Noch nicht einmal das scheint dem beigen Paar Eindruck zu machen. Man wartet unbewegt zu.

Weder links noch rechts des Ganges ist ein Wort gewechselt, da steht der erste Halt an. Alles bleibt.

Wenig später geht der Zugbegleiter eilig durch den Wagen, ohne die Fahrscheine zu kontrollieren. Wahrscheinlich muss er nach vorne zum Lokführer, um den nächsten Streik vorzubereiten. Auf Sächsisch.


Das junge Quartett ist weiterhin in seine Display-Inhalte vertieft. Die Frau lächelt hin und wieder. Einer der Männer hat sich inzwischen Kopfhörer aufgesetzt. Der neben ihm scheint zu spielen, der dritte döst ein wenig.

Von den Senioren gegenüber kommt kein Laut. Sie verharren wie festgetackert und blicken aus dem Fenster in die norddeutsche Trostlosigkeit fußnasser Felder.


Ich bin absolut sicher, nicht in einem Wagen zu sitzen, der von der Deutschen Bahn als Ruhezone ausgewiesen ist – dort steppt im Normallfall akustisch der Bär, und man ertrinkt in einer Kakophonie lautstarker Unterhaltungen- sei es am Telefon oder auch off.

Die hier und jetzt vorherrschende Grabesstille erinnert mich an den Beitrag eines TV-Magazins im gebührenfreien Fernsehen, der einen unbezahlbaren Informationsgehalt bot: Man hatte an bevorzugten Urlaubsorten der Deutschen versteckte Kameras aufgebaut und beobachtete nun zwischen Rügen und Mallorca Paare, die sich zum Essen in ein Restaurant gesetzt hatten. Nach der wortlosen Auswahl an Speisen und Getränken wurde kurz bestellt, und dann konnte man mit wachsender Begeisterung und in der Bildschirmecke laufender Stoppuhr verfolgen, für wie lange Zeit nicht miteinander gesprochen oder in anderer Form kommuniziert wurde. Und nicht bedeutete tatsächlich gar nicht. Nullkommanix.

Der Rekord, an den ich mich lebhaft erinnere, waren ohrenbetäubende 145 Minuten absoluter Sprachlosigkeit für die Dauer von fünf Gängen.

Wir hier im Zug sind erst bei einer Dreiviertelstunde Nichts, wobei mich die Vereinzelung des jüngeren Quartetts nicht weiter verwundert. Aber die Herrschaften gegenüber?

Nicht nur absolut regungslos wie ein in Stein gemeißelter Bleierner Hochzeitstag, nein, auch völlig lautlos. Tiefgefrorenes Fleischgewicht.

Was mag der Grund sein? Zu lange verheiratet? Unzufrieden mit dem gestrigen Besuch beim Sohn, weil dessen Geschlechtsumwandlung nun doch nicht so hübsch aussieht? Die Lottozahlen zum ersten Mal seit vierzig Jahren geändert und ausgerechnet dann wurden die alten Nummern gezogen? Oder wegen des tierischen Gestanks einfach tapfer die Luft angehalten?


Kurz vor dem nächsten Halt springt das Quartett des Jugendtisches zeitgleich auf, schnappt seine Taschen und begibt sich grußlos in Richtung Ausgang.

Die Senioren bleiben sitzen. Kaum ist der Zug wieder angefahren, sagt die alte Dame kopfschüttelnd zu ihrem älteren Herrn:

„Hast Du das gesehen, Uwe?

„Was?“

„Na, die jungen Leute da eben. Kein einziges Wort haben die miteinander gewechselt. Fast eine Stunde lang, du. Sind alle nur mit ihren Handys zugange. Jeder kuckt auf sein blödes Telefon und keiner redet mit dem anderen.“

„Tscha, Inge, miteinander reden ist heutzutage wohl nicht mehr modern. Die Leute haben sich nichts mehr zu sagen. Traurig ist das. Aber was willst Du machen.“

Beobachtet im Winter 2021


© Ruth Rockenschaub

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