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Love Me, Gender

Eines der größten Privilegien des Menschen ist es, sich Gedanken machen zu dürfen. Während ich dies schreibe, kann ich mich gleichzeitig mühelos der ekstatischsten tropischen Momente meines Lebens erinnern, dem kategorischen Imperativ widmen oder einem Einkaufzettel, den zu verfassen ich noch immer nicht gelernt habe, und Sie würden nicht bemerken, was mir gerade wirklich durch den Kopf geht.

Gleiches gilt natürlich auch beim persönlichen Kontakt mit anderen. Hierbei macht es allerdings Sinn, seine Gesichtsmuskulatur einigermaßen unter Kontrolle zu haben.


Die Gedanken sind also frei.

Sollten Sie Menschen kennen, deren Gedanken nicht frei sind, werden Sie gefälligst Paten und Advokatinnen dieses unfreien Denkens und tragen Sorge dafür, dass auch dort Freiheit einkehrt. Andernfalls drohen chronisch kranke Anschauungsblasen und erstickter Schöpfergeist.

Ich werde Ihnen im Folgenden sechs kurze Gespräche in jeweils mehr als einer Variante schildern.

Diese Unterhaltungen habe ich im vergangenen Halbjahr selbst mit angehört. Welche Version die tatsächliche gewesen sein könnte, entscheiden Ihre Gedanken.


1. Zu Risiken und Nebenwirkungen

Version A

Ein Wartezimmer voller Frauen. Die eine liest, die andere ist mit ihrem Smartphone befasst, weitere starren auf den Flatscreen mit dem stummen Patienten-TV-Kanal und den animierten Organen. Offenbar existiert für alles eine Untersuchung, bis es keine Therapie mehr gibt.

Auf dem Fensterbrett nachgemachte Zimmerpflanzen in Übertöpfen mit situationsgerechter Beschriftung:

Get up, stand up!, Help! I need somebody und I will survive. Allerdings ohne Copyrightangaben. Bob Marley, Beatles, Gloria Gaynor.

Plötzlich sieht eine Fünfzigjährige um die Ecke.

„Ich suche meinen Mann“, sagt sie und blickt in die Runde, „aber hier ist er anscheinend nicht.“

„Hoffentlich ist er nicht weggelaufen“, erwidert eine der Wartenden mit einem Schmunzeln.

„Das macht der nicht“, sagt die Fünfzigjährige. „Der ist gut erzogen.“

Version B

Wartezimmer, Frauen, Übertöpfe.

Plötzlich sieht ein Fünfzigjähriger um die Ecke.

„Ich suche meine Frau“, sagt er und blickt in die Runde, „aber hier ist sie anscheinend nicht.“

„Hoffentlich ist sie nicht weggelaufen“, erwidert eine der Wartenden mit einem

Schmunzeln.

„Das macht die nicht“, sagt der Fünfzigjährige. „Die ist gut erzogen.“


2. Wer bin ich?

Version A

Ein Sommerabend am Wasser. Der Blick über die Bucht ist traumhaft, das Publikum gemischt. Zwei Männer an der Bar.

Sie scheinen schon eine Weile hier zu sitzen und die Getränkekarte einzuatmen.

„Weißt du was?“, sagt der eine etwas zu laut, „alle Frauen sind Nutten.“

„Genau“, pflichtet der andere bei. Sie klatschen sich ab.

„Und? Was sind wir?“

„Die Nuttenmacher!“, sagen sie im Chor und brechen in prustendes Lachen aus.

Version B

Sommerabend, Bucht, Blick, gemischtes Publikum.

Zwei Frauen an der Bar.

Sie scheinen schon eine Weile hier zu sitzen und die Getränkekarte einzuatmen.

„Weißt du was?“, sagt die eine etwas zu laut, „alle Frauen sind Nutten.“

„Genau“, pflichtet die andere bei. Sie klatschen sich ab.

„Und? Was sind wir?“

„Die Nuttenmacherinnen!“, sagen sie im Chor und brechen in prustendes Lachen aus.


3. Eiteitei

Version A

Im Einkaufszentrum einer Kleinstadt. In der Mitte des optischen Elends ein Café, das mit duftenden Waffeln und türkisfarbenem Eis lockt. Es ist sehr gut besucht.

„Darf ich mich dazusetzen?“, fragt die ältere Frau eine junge Mutter mit Kinderwagen, die alleine an einem der kleinen Tische sitzt. Der Junge ist etwa zwei Jahre alt und ausgesprochen niedlich. „Du meine Güte, ist der hübsch!“, sagt die Frau. „Danke“, antwortet die junge Mutter mit einem Lächeln. „Wenn der erst achtzehn ist, komme ich wieder“, sagt die Frau und holt ein Duplo aus ihrer Jackentasche.

Version B

Einkaufszentrum, Café.

„Darf ich mich dazusetzen?“, fragt der ältere Mann eine junge Mutter mit Kinderwagen, die alleine an einem der kleinen Tische sitzt. Der Junge ist etwa zwei Jahre alt und ausgesprochen niedlich. „Du meine Güte, ist der hübsch!“, sagt der Mann. „Danke“, antwortet die junge Mutter mit einem Lächeln. „Wenn der erst achtzehn ist, komme ich wieder“, sagt der Mann und holt ein Duplo aus der Jackentasche.


4. Juckreiz

„Leider haben wir hier in unserer Einrichtung vermehrt Fälle von Krätze zu verzeichnen“, berichtet die Ärztin der Kurklinik.

Bitte wählen Sie:

A „Wir haben den Verdacht, dass sich eine Patientin prostituiert.“

B „Wir haben den Verdacht, dass sich ein Patient prostituiert.“

C „Wir haben den Verdacht, dass sich eine Ärztin prostituiert.“

D „Wir haben den Verdacht, dass sich ein Arzt prostituiert.“


5. Lalülala

Version A

„Gestern musste ich mich mal wieder so richtig abreagieren“, sagt der Mann zu seinem Freund. „Was für ein Scheißtag. Ehrlich!“

„Und? Was hast du gemacht?“

„So richtig schön mit fünfundsiebzig Sachen auf der linken Spur über die A20. Und zwar nur links. Beinhart. Und wehe, irgend so ein Arschloch hat von hinten gedrängelt. Da kann ich so richtig sauer werden, du.“

Version B

„Gestern musste ich mich mal wieder so richtig abreagieren“, sagt die Frau zu ihrem Freund. „Was für ein Scheißtag. Ehrlich!“

„Und? Was hast du gemacht?“

„So richtig schön mit einhundertachtzig Sachen auf der linken Spur über die A20. Und zwar nur links. Beinhart. Und wehe, irgend so ein Arschloch hat nicht gleich Platz gemacht. Da kann ich so richtig sauer werden, du.“


6. 100 B

Version A

Ein ansprechendes Dessousgeschäft. Wände und Einrichtung sind puderfarben, die Auswahl erfreulich.

Eine Frau mit Modelmaßen betritt das Geschäft.

„Ich suche einen BH“, sagt sie zu der Verkäuferin.

„Welcher Stil darf es denn sein?“, fragt die.

„Auf keinen Fall etwas Sportliches“, antwortet die Frau. „Lieber sexy und romantisch, gern einen Push Up.“

„Und die Größe?“

„100 B“, bitte.“

„100 B?“, staunt die Verkäuferin. „Wäre das nicht viel zu groß für Sie?“

„Der ist für meinen Mann,“ erwidert die Kundin.

Version B

Dessousgeschäft.

Frau mit Modelmaßen.

„Ich suche einen BH“, sagt sie zu der Verkäuferin.

„Welcher Stil darf es denn sein?“, fragt die.

„Nichts Sportliches“, antwortet die Frau. „Lieber sexy und romantisch, gern einen Push Up.“

„Und die Größe?“

„100 B“, bitte.“

„100 B?“, staunt die Verkäuferin. „Wäre das nicht viel zu groß für Sie?“

„Der ist für meine Frau,“ erwidert die Kundin.

Version C

Dessousgeschäft.

Ein Mann mit Modelmaßen betritt das Geschäft.

„Ich suche einen BH“, sagt er zu der Verkäuferin.

„Welcher Stil darf es denn sein?“, fragt die.

„Auf keinen Fall etwas Sportliches“, antwortet der Mann. „Lieber sexy und romantisch, gern einen Push Up.“

„Und wissen Sie die Größe der Dame?“

„100 B, bitte. Und die Dame ist übrigens mein Herr.“


Wenn das Denken die Sprache korrumpiert, korrumpiert die Sprache auch das Denken. George Orwell


© Ruth Rockenschaub

Freundlichst unterstützt durch www.studiofunk.de



Wer nicht lesen will, muss hören!

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