Kennen Sie KlausBärbel, Lederhose666, Zum_Frühstück_immer_gegrillten_Igel, Buddha_ bei_ die_Fische, und Doktor_Fühldichgut? Nein? Ich auch nicht. Es sind Pseudonyme. Decknamen von Menschen, unter denen sie sich öffentlich zu Dingen äußern, über die sie eine Meinung haben. Und seit Jahren frage ich mich, warum diese Leute nicht sagen, wer sie sind.
Ist es nicht erstaunlich, wie leichtfertig Menschen auf das Privileg verzichten, sich erkennbar zu äußern und einer Antwort wert zu sein? Je unzensierter die Zeiten, desto verschämter das Einnehmen von Standpunkten. Es ist gängig, anonym zu verharren, so oft es nur irgend geht. Ehrliche Auffassungen verbleiben ohne Signatur und stellen zwischen Absender und Empfänger keinerlei Beziehung her. Null. Ich darf Sie leidenschaftlich hassen und es Ihnen ungestraft aufs Display kotzen, ohne mich zeigen zu müssen. Ich kann Ihnen verbal in die Hose fassen, ohne eine spürbare Reaktion befürchten zu müssen.
Das mag man für bequem halten, aber warum sollte man es wollen? Wenn Sie also der Fahrer sind, der kaltlächelnd mitten in einer Hamburger Schneegestöbernacht mit seinem Linienbus an der Haltestelle Michaeliskirche einfach durchfährt, obwohl dort eine schwarze Frau im Rollstuhl darauf wartet, zusteigen zu dürfen, dann werde ich Ihnen meine Entrüstung ins Gesicht blasen und nicht unter dem Tarnnamen Buddha_ bei_ die _Fische an Ihre Chefin schreiben.
Und wenn Sie zu diesen Prokrastinaten gehören, die ausdauernd behaupten, es täte Ihnen wahnsinnig leid, Nachrichten unbeantwortet gelassen zu haben, obwohl das normalerweise nicht Ihre Art ist, dann darf ich Ihnen unumwunden versichern: Doch, es ist Ihre Art. Andernfalls würden Sie es doch wohl kaum tun! Und ich will wissen, dass Sie wissen, dass ich es bin, die es Ihnen sagt und nicht Lederhose666.
Oder sind Sie einer von denen, die fortwährend behaupten, die Gründe für Ihr eigenes Handeln eigentlich selbst nicht zu verstehen? Dann, mit Verlaub, ist es ernst. Ich wette, Sie nehmen diese modernen Medikamente. Das sind jene, auf deren Beipackzetteln der Hinweis steht, dass Sie genau die Beschwerden davon bekommen werden, derentwegen Sie das Zeug überhaupt einnehmen. Die berühmten Nebenwirkungen. Ich fürchte, Sie sollten sich höchstpersönlich und ohne Pharmaka um Besserung bemühen. Doktor_Fühldichgut ist unzuständig.
Es mag einer gewissen Eitelkeit geschuldet sein, wenn man der Ansicht ist, diese Art der Heimlichkeit halte sich in einer so weit unten befindlichen Schublade auf, dass sich allein der Gedanke an den Bückvorgang verbietet. Vielleicht ist es auch Rechthaberei. Gibt es aber nicht noch eine Milliarde Gründe mehr, sich leibhaftig zu bekennen?
Wie kann es sein, dass das Reden hinter dem Rücken eine Renaissance so ungeahnten Ausmaßes erfährt, und welchem eklatanten Verfall unterliegt dabei die persönliche Genugtuung?
Mangelnde Beredsamkeit kann es nicht sein, lassen wir doch kaum eine Gelegenheit aus, unsere Umgebung zu beurteilen und kategorisieren: Den Döner beim Türken, den Geschmack der besten Feindin, das Lieblingslied des schwulen Nachbarn, das abgewrackte Date mit dem Tindertypen.
Und sofern wir selbst nicht aktiv werden, fordert man uns nachdrücklich auf. Wie oft erhält man die Anregung, etwas zu bewerten. Wir verteilen Sterne, Daumen, die nach unten oder oben weisen und hässliche gelbe Kreisgesichter mit archetypischen Mimikvarianten. Deine Meinung ist uns wichtig. Tatsächlich? Auch, wenn ich zu feige bin, meine Identität preiszugeben? Und wer genau bin ich dann? Wasche ich meine Hände tatsächlich mit einer Seife namens Unschuld?
Wie immer bei derart philosophischen Fragen hilft ein Blick in die U.S.A.
Wo würde man besser verstehen, derartige Dilemmata mit einem sinnstiftenden Befreiungsschlag an der Wurzel zu erledigen? Ein Land, in dem heißer Kaffee im Becher mit dem Warnhinweis versehen ist, es handele sich um heißen Kaffee im Becher, hat mit Sicherheit mehr Strategien als der siechende Kontinent Europa, der, wie alle alten Dampfer nach einer Frau benannt, im Begriff ist, auf Grund zu laufen.
Und weil wir gerade dabei sind: Die gute Europa ist eine mythologische Figur royaler Herkunft. Hätte sich der griechische Übergott Zeus nicht in sie verliebt und extra in einen Stier verwandelt, um so unerkannt mit ihr nach Kreta galoppieren zu können, wer weiß, wie unsere Weltgegend heute hieße. KlausBärbel?
In Amerika macht man mit diesen, wie mit noch ganz anderen Dingen, Geld.
Dort wurde längst in aller Breite eingeführt, was bei uns, immer noch ein wenig verklemmt umschrieben, als Möglichkeit mit Warnhinweis daherkommt: Apps, die ein Inkognito garantieren und ausschließlich dazu gedacht sind, Leuten mal so richtig einen einzuschenken.
2004 kommt Facebook, 2006 Twitter. Vor zehn, zwölf Jahren allerdings herrscht erneut Goldgräberstimmung.
Fiebergesichtige Nerds entwickeln, ausgestattet mit den Dollarmillionen saucooler Investoren, anonyme Hassapps. Das Silicon Valley stößt einen seiner, mittlerweile, sattsam bekannten Rülpser aus, und gibt sich überzeugt davon, das Tollste erfunden zu haben, was man, nach geschnittenem Toastbrot, auf die Zivilisation herabregnen lassen kann.
Den Usern wird erfolgreich suggeriert, namenlos und enthemmt auf alles und jeden verbal einschlagen zu können, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Dass alle Bewegungen im Netz auch Spuren hinterlassen und das Auslesen von Userdaten eine Selbstverständlichkeit ist, die zum Geschäftsmodell gehört, scheint für beide Seiten nicht der Rede wert, beziehungsweise vernachlässigbar.
Die im Gründerrausch erworbenen Besitzerboliden stehen längst vor der Tür. Das Business kann beginnen. Und es läuft gut. Sehr gut sogar. Unerkannt demütigt es sich eben lockerer.
Man lästert über Dünne, Dicke, Helle und Dunkle. Man bedroht Kluge, Dumme, Fremde und Freunde. Geistige Gülle aus dem Off.
Hauptzielgruppe: Collegestudenten. Hauptmotivation der Anwender: Sie vermeiden die Nutzung von Foren unter Klarnamen, um der eigenen, zukünftigen Karriere nicht zu schaden. Eine erstaunliche Haltung, sollte man doch davon ausgehen, dass Karrieren auch damit zu tun haben könnten, was man im Kopf hat.
Dumm nur, dass die Apps auch genutzt werden, um anonyme Bombendrohungen zu versenden, derentwegen mehrfach Institutionen geräumt werden müssen. Man hatte allerdings zu scherzen beliebt, wie sich dann herausstellt. Wahnhafte Witze und hirnlose Häme gegen alles und jeden.
Es kommt zu Selbstmorden junger Menschen, die dem unsäglichen Druck durch nicht enden wollende Schmähungen wehrlos ausgeliefert sind.
Frauen berichten von Vergewaltigungsankündigungen und Drohungen der Nekrophilie, die per App gegen sie ausgestoßen werden. Und noch ist es so, dass die Daten der abgefuckten Absender zwar bekannt, aber nur per Gerichtsbeschluss, Vorladung, Haft- oder Durchsuchungsbefehl publik gemacht werden dürfen. Und dafür hat eventuell nicht jeder Betroffene mehr die Kraft.
Wer allerdings den Geschäftssinn der Amerikaner kennt, weiß, dass es bei dieser Art Konstrukt nicht bleiben kann. Die Willkürapps verlieren nämlich an Zuspruch. Immer wieder einmal taucht eine neue auf, ohne aber den angestrebten Megaerfolg auch dauerhaft zu halten.
Hat man sich verkalkuliert und erheblichen Finanzaufwand für ein Thema getrieben, das, anders als Facebook oder Twitter, noch nicht einmal den trügerischen Eindruck einer Community zu machen vermag?
Es muss eine geniale Idee her.
Und deshalb gibt es nun seit relativ kurzer Zeit eine neue App mit der bereits beschriebenen Charakteristik.
Das Sensationelle: Für knapp zehn Dollar Gebühr pro Woche bekomme ich die Daten genau jener Menschen, die zu feige sind, mir ins Gesicht zu sagen, was sie über mich denken. Das sind 40 Dollar im Monat, und ich weiß immer, wer was an mir scheiße findet. Macht 480 Dollar pro Jahr, und schon geht sie hin die Anonymität der total tollen App, und ich bin sicher, es kuckt mal wieder kein Schwein, und das Ding ist in den Hitlisten des Herunterladens schon wieder ganz weit vorn.
Entschuldigen Sie bitte, wenn ich an dieser Stelle kurz unterbreche.
Es passiert nämlich schon wieder: Mein Schreibtisch steht an einem Fenster. Schräg gegenüber befindet sich ein ungezähmtes Stück Grün mit hohen Bäumen und einem riesigen wilden Brombeerbusch. An besonders heißen Hochsommertagen wie heute, werden die Bewohner des nahegelegenen Altenheims ausgeführt. Immer genau um die Mittagszeit, wenn die Luft dick ist wie ein Heizkissen und die Singvögel ermattet vom Himmel fallen. Vermutlich hofft man, mit Hilfe von Dehydrierung und Hitzschlägen, auf freiwerdende Zimmer. Schleppenden Schrittes hält die Rollatorenkolonne auf den üppig behangenen Beerenbusch zu, und die überbezahlte Pflegefachkraft reicht die köstlichen Früchte an. Die schmecken wie damals in der Kindheit.
Schon am frühen Morgen war, wie beinahe täglich, ein anderes Publikum da.
Es ist ein orangefarbener Wagen der Müllabfuhr. Die Männer machen genau an eben jenem Busch Pause und nutzen ihn als Toilette. Man darf wiederkehrend total lustiges Brombeerwettpinkeln beobachten.
„Erster!“, ruft dann einer, sobald er die leckeren Beeren mit seiner gelblichen Ausscheidung benetzt hat. „Volltreffer!“, ein anderer, „kuck mal, wie die wackeln!“ Sobald die drei Herren erfolgreich waren, rauchen sie eine und fahren ihrer Wege.
Seit Tagen überlege ich, ob man die Herrschaften aus dem Heim nicht aufklären sollte. Aber wer blickt schon gern in verzagte Seniorengesichtchen mit brombeerverschmierten Mündern, aus denen lila Zungen leuchten. Kein Mensch. Ich denke, ich werde eine Mail schreiben. Natürlich anonym. Absender: Zum_Frühstück_immer_Brombeerwettpisse.
© Ruth Rockenschaub
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