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Das ungemein geheime Leben der Queen Teil 1

Es hilft nichts, geneigte Leserinnen und Hörer: Wir müssen heute endlich über die Queen sprechen. Es ist wirklich dringend.


Zunächst sei überlegt, wann mir das erste Mal bewusst wurde, dass es die Queen überhaupt gibt, und ich habe betreffs des Zeitpunkts und Orts keinerlei Zweifel.

Dezember 1968. Ich sitze auf der oberen Kante eines barbarisch primitiven Etagenbetts in trostloser Jugendherberge und meine Gedanken rattern wie wild.

Dort, wo ich zur Schule gehe, führen Klassenreisen erbarmungs- und alternativlos in tief verschneite Skigebiete und bestehen aus satanischen Foltermethoden namens Stemmbogen, Parallelschwung und Schussfahrt.


Das Thema ist widerlich. Man muss so lange bergab fahren, bis man entweder tot umfällt oder gegen ein Hindernis prallt, weil diese grotesken Fortbewegungsmittel, die man sich an die Füße zu schrauben hat, über keinerlei Bremsen verfügen.


Der ausgesprochen unwürdige Vorgang ist nur dazu angetan, die perfekte Schönheit frisch gefallenen Schnees, die eigentlich dafür vorgesehen ist, die Menschen fernzuhalten, dem genauen Gegenteil auszuliefern: Man karrt die Leute in Busladungen herbei. Wenig später ist die Gegend mit den hässlichen Abdrücken gestürzter Ärsche verschandelt und die völlig nutzlosen Spuren dieser sinnfreien Latten schneiden das Panorama in Scheiben. Unnötig zu sagen, dass die angeblichen Sportgeräte mit der menschlichen Anatomie so viel zu tun haben wie ein Geodreieck mit einem sterbenden Schwan.

Und dann diese Schuhe, die aussehen wie degenerierte Hufe eines Brauereigauls mit chronischer Fehlstellung. Untragbar!


Es bedarf also dringend eines gewitzten Plans, der lebensgefährlichen, saisonal wiederkehrenden Unterjochung ein für alle Mal ein Ende zu bereiten.


Und während sich meine unterbelichteten Mitschülerinnen in selbst verschuldeter Erschöpfung Richtung Speisesaal schleppen, um nach Krankheit stinkenden Pfefferminztee und wellige Wurstbrote in ihre Fräuleinmünder zu schieben, schraubt mein brillanter Geist an einer sinnstiftenden körperlichen oder emotionalen Diagnose, die mir für die nächsten endlosen zehn Tage garantieren wird, dass ich, und nur ich, bei heißem Kakao auf einer sonnenbeschienenen Terrasse in möglichst großer Entfernung zur Piste des Verderbens sitzen darf. Mit Schlagobers.


Noch habe ich mich nicht zwischen glaubhaft vorgetragenem Nervenzusammenbruch oder simuliertem Schädelhirntrauma entschieden, als plötzlich aus einer entfernten Ecke des winterlichen Leibeserziehungsknasts laute Musik erklingt.

Es singt ein Mann. Seine raue Stimme reitet auf einer Orgel und einem Bläsersatz. Die Backgroundsängerinnen verstreuen Chili.

Das klingt nicht nach Krippenspiel mit Blockflötengruppe. Das Lied scheint von etwas Dringlichem zu handeln. Von etwas sehr Dringlichem. Gleich darauf erzählt eine Frau von ihrem Baby, aber Mutterliebe hört sich irgendwie anders an.


Dann katapultiert mich ein Rhythmus direkt von der Bettkante: Das Bläserintro ist verheißungsvoll, die Snaredrum glüht nach wenigen Takten. Eine Stimme, die offenbar hohes Fieber hat, singt über Leute, von denen ich noch nie gehört habe: Wilson Picket, Lou Rawls, Sam and Dave, Otis Redding, James Brown. Wer sind die? Und wovon, um alles in der Welt, handelt dieses Lied, außer meinem Puls?

Ich laufe auf Socken in Richtung der Musik und bleibe atemlos neben der halb geöffneten Tür stehen, aus der sich diese beunruhigenden, packenden Neuigkeiten ergießen. Ich habe das untrügliche Gefühl, heimlich an einem konspirativen Kongress illegaler Körperphänomene teilzunehmen.


Der nächste Song beginnt mit den Worten when a man loves a woman, und irgendetwas daran muss fürchterlich wehtun. Hier bietet weder die tropfende Gitarre Linderung, noch das Schlagzeug mit seiner silbenreichen Sprache. Ich verstehe etwas von fool und don’t treat me bad. Das wird nicht gut ausgehen, fürchte ich und bin zunehmend in einem Bann, der Seele und Körper gleichzeitig in völlig verschiedene Richtungen krümmt. Wann hätte man das je so unerbittlich gespürt?


Ein, zwei ergreifende Lieder später trifft mich dann ein daseinsverändernder Donner: Zunächst das elegante elektrische Piano, nur kurz, ganz so, als wollte es uns in die Irre führen. Der Beat lauert tickend wie eine Katze auf dem Sprung, und dann höre ich zum ersten Mal diese Stimme: Sie erzählt von einem Herzensbrecher, Lügner und Betrüger und fragt sich, warum sie genau dem erlaubt, sich so dermaßen viel herauszunehmen.

Das legt sich wie eine knallende Peitsche ums Herz und zieht einen in Zeitlupe direkt ins Auge des Orkans.

So, wie diese Frau singt, habe ich zuvor noch nie jemanden singen gehört. Danach übrigens auch nicht. Aber für diese Erkenntnis werden noch mehrere Jahrzehnte ins Land gehen müssen.

Mit den Explosionen eines Little Richard in Lucille und der treibenden Genugtuung von Chuck Berry in Johnny B. Goode habe ich mich schon längst befreundet. Aber das hier?


Ich bin in diesem Augenblick überzeugt davon, binnen vierer Textzeilen total erwachsen geworden zu sein und die Welt endgültig und umfassend verstanden zu haben. Außerdem darf man sich offenbar auch in Idioten verlieben, wenn man dann so singt.

Ergriffen warte ich ab, bis das Lied versiegt. Dann betrete ich den ungeheizten, dreivierteldunklen Aufenthaltsraum. Auf einem Hocker an der Wand ein Dual- Plattenspieler, im Fenster eine einsam flackernde Kerze.


Auf dem Fußboden vor dem Plattenspieler sitzt James.

James ist der Sohn eines Amerikaners, der nach dem zweiten Weltkrieg in Österreich geblieben war. James geht auf das Gymnasium für Knaben nebenan und ist stadtbekannt, weil er notorisch Farbkreiden in der Schule akquiriert, um von dort bis zu sich nach Hause Wände, Unterführungen, Kirchen und Gehwege mit seinem Namen zu versehen. Immer wieder und mit Ausrufungszeichen: James! James! James! Kunst am Bau. Formschön, aber leider abwaschbar.


Ich gehe davon aus, dass es sich bei James‘ Anwesenheit an so menschenfeindlichem Ort um eine disziplinarische Maßnahme handeln muss. Niemand, der auch nur einigermaßen normal ist, wird allen Ernstes freiwillig hier sein. Und jemand wie James schon gar nicht. Wenn der morgens in den Schulbus steigt, sinkt die Temperatur vor lauter Coolness um einige Grad. James trägt schon zu dieser Zeit nadelspitze Lackschuhe, knielange Trenchcoats, ganzjährig Sonnenbrille und einen Briketthaarschnitt wie Grace Jones anderthalb Jahrzehnte später auf dem Plattencover von Nightclubbing.


Noch spannender, als James eventuell auf weißem Abhang scheitern zu sehen, ist aber die Tatsache, dass er diese ungeheuerliche Musik hört.

„Wer war denn das grade?“, frage ich.

„Was!“ Ich habe den Halbgott der Überlegenheit offenbar gestört. Unwichtig.

„Wer das war. Diese Stimme.“

„Wen meinst du? Wilson Picket? Sam and Dave? Percy Sledge? Ben E. King?“

James spricht in Hieroglyphen.

„Nein, die Frau mit dem heartbreaker.“

„Das war Aretha“, sagt James in diesem überheblichen Ton, als gehöre die Information als solche längst zur Allgemeinbildung wie drei, drei, drei, bei Issos Keilerei.

„Aretha?“

„Aber geh‘! Aretha Franklin, die Queen of Soul!“

Hören sie nächste Woche in Teil 2 mehr über Aretha Franklin und die besten Gründe, sich so richtig aufzuregen.


© Ruth Rockenschaub

Freundlichst unterstützt durch www.studiofunk.de



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