Haben Sie schon einmal nachgezählt, wie viele Wörter Sie verstehen und wie groß daran der Anteil derer ist, die Sie in Ihrem Leben auch anzuwenden in der Lage sind? Und? Sind es viele? Dann gibt es Grund zur Beunruhigung.
Gehen Sie davon aus, dass Ihr durchschnittlicher Wortschatz als deutsche Muttersprachler zwölf- bis fünfzehntausend Wörter umfasst. Aktiv. Sie verstehen allerdings fünfzigtausend. Bleiben fünfunddreißigtausend, die Sie nicht wissentlich anwenden können.
Bitte erschrecken Sie jetzt nicht: Das Universalgenie Johann Wolfgang von Goethe vermochte mit einundneunzigtausend Ausdrücken um sich zu werfen. Einfach so. Gewohnheitsmäßig. Im Alltag und ohne Duden. Der kam erst ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod auf den Markt. Goethes passiver Wortschatz dürfte also noch wesentlich umfangreicher gewesen sein.
Wir stellen fest: Der Mann war wahnsinnig. Allein aus seinem Wortschatz könnte man heutzutage täglich über zwanzig verschiedene Presseprodukte nach dem Muster der BILD-Zeitung publizieren, die sich mit einem Vokabular von durchschnittlich viertausend Begriffen begnügt. Und das ausgesprochen erfolgreich.
Wir lernen: Die Gegenwart ist bereits wortloser als die Vergangenheit. Die Zukunft wird die Schnauze halten.
Erst kürzlich erfasste mich in genau diesem Zusammenhang erhebliche Glückseligkeit. Es offenbarte sich mir eine erstaunliche Vision: Ich befand mich inmitten einer Runde universitätsgeschmiedeter, deutscher Sprachwissenschaftlerinnen und war selbst die einzige total unausgebildete, mangelqualifizierte linguistische Notlösung. In meinen Kreisen studiert man nur Unnützes. Da ist man natürlich auf Knien dankbar, dass man überhaupt dabei sein darf. In Anerkenntnis der Tatsache verstreute ich diskret einige Hände Rosenblätter unter den Füßchen der wortgewandten Geistesgrößen.
Thema des Tages: Die fachlichen Kenntnisse der Anwesenden. Kaum war man auf die herausragenden Leistungen einer Teilnehmenden zu sprechen gekommen – ich hatte in diesem Zusammenhang das Wort versiert benutzt – tropfte aus einem der akademischen Antlitze die Frage, was denn das Wort versiert bedeute.
Dazu eine kurze statistische Anmerkung: Wer so nach einem Begriff fragt, vermag ihn weder aktiv anzuwenden, noch passiv einzuordnen.
In Nanosekundenschnelle war offensichtlich, was ich schon länger vermutet hatte: Man braucht sich um die Perspektiven dieses Landes keinerlei Sorgen zu machen. Sie sind strahlend, gülden und von unfassbaren Erfolgen umhäkelt.
Die Einwanderung potentieller ausländischer Arbeitskräfte allerdings sollte umgehend gestoppt werden! Aus! Vorbei! Zu gefährlich!
Warum?
Haben Sie schon einmal in Erfahrung gebracht, was man von einem Einwanderer, der Ihnen in x Jahren den Seniorenhintern abwischen soll, an Deutschkenntnissen erwartet?
Glauben Sie mir, Sie wollen es gar nicht wissen. Da würde die deutsche Universitätsabsolventin schon beim Thema Elektrolytlösungen zum Ausgleich von Salz- und Wasserverlusten hoffnungslos abkacken. Solchen Vergleichen wollen wir uns gar nicht erst aussetzen. Nein, nein, nein, hierzulande braucht kein Mensch versiert, wenn man doch auch ohne eine viel höherwertige Karriere machen kann.
Wie wär’s mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der Querversetzung auf eine Spitzenposition bei der EU oder einem Job als Vorstand der Bundesagentur für Arbeit? Sehen Sie sich nur um! Es gibt so viele schöne Möglichkeiten, und alle sind absolut unschämbar.
Sie haben es längst erkannt: Bildung ist ein Dokument. Mehr nicht.
Ich betrete einen hiesigen Supermarkt. Vor mir ein Paar. Der Mann ist groß, etwa siebzig, ehemals blond, die Frau ausgesprochen zierlich, vielleicht Ende Zwanzig und offenbar asiatischer Herkunft. Er schiebt den Wagen, sie schlendert entspannt hinter ihm am Obstsortiment entlang.
„Vergiss nicht wieder die Tomaten!“, bellt er.
„Kuck mal“, sagt sie, und bleibt vor einer Kiste praller tropischer Mangos stehen. „Sehr, sehr lecker.“ Er dreht sich kurz um. „Das sind doch keine Tomaten. Das sind Avocados!“
Ich erschrecke. Bin ich aus Versehen in die Dreharbeiten für einen Film geraten? Wird es der zweite Teil von Einer flog über das Kuckucksnest, und die Anstaltsinsassen haben heute Freigang mit Betreuung?
Oder sollte Quentin Tarantino sekündlich hinter der Gefriertruhe hervorspringen und Regieanweisung geben? Darf die Mangofrau das Ekelpaket von hinten anspringen und ihm eine Machete durch den faltigen Adamsapfel ziehen? Wird Sie sein Blut trinken oder soll es sich über die Biobirnen ergießen und auf den Stachelbeeren bestialische Spritzer hinterlassen?
Als nichts dergleichen geschieht und der Mann weiter hinten eine Flasche Ketchup in den Wagen plumpsen lässt, stelle ich überrascht fest, in Wirklichkeit Zeugin einer großen Liebe geworden zu sein: Die junge Frau hat das Privileg, am Alterungsprozess des Mannes teilhaben zu dürfen. Ein sonnenbeschienener, durch und durch friedvoller Lebensabschnitt. Vergleichbares steht übrigens auch auf den Fahnen, die vor der Endlagerstätte für Omi und Opi, vulgo: dem Altersheim, in der nächsten Straße flattern. LEBEN UND AUFLEBEN! heißt es darauf. Genau darunter parkt mehrmals monatlich der Leichenwagen.
In sprachlich erstaunlichen Situationen wie den geschilderten, muss ich immer an einen Freund denken, der sein Geld mit dem Texten von Welthits verdient hat, deren Zeilen Sie alle auswendig können.
Der Mann war, sorry, nur noch dieses eine Mal, versiert im Umgang mit Sprache, und sein Leben gestaltete sich proportional angenehm. Für lange Jahre begleitete ihn ein großer weißer Schäferhund, den ihm ein Kneipengast angeboten hatte, weil er ihn nicht mehr haben wollte. Das Tier hieß, sie ahnen es schon – groß, weiß – Elvis. Mein Freund nahm sich seiner an und bald verband die beiden eine erstaunliche Innigkeit. Und zwar wortlos. Es war allerdings keineswegs so, dass der Mann nicht mit dem Tier gesprochen hätte. Ganz im Gegenteil. Er bediente sich dabei allerdings keiner Wörter. Er gab Geräusche von sich, die klangen, wie das Schlüsselrepertoire sinnvoller, bewährter Menschhundkommunikation.
Kam der strenge Tonfall für Platz!, setzte sich Elvis umgehend. War die Intonation eher schmeichelnd, stellte Leckereien oder ähnliche Gunstbezeugungen in Aussicht, legte der Hund den Kopf zur Seite und wedelte vorfreudig mit dem Schwanz.
Null Vokabular, optimales Ergebnis. Ein Menschheitstraum.
Und weil Sie mich immer wieder fragen, warum Sie keine Hausaufgaben von mir bekommen: Bitte entwickeln Sie alle erforderlichen Sounds für die oben geschilderte Mangotomatenavocadosupermarktszene und studieren Sie sie mit verteilten Rollen ein. Ohne Worte. Das muss nächste Woche sitzen. Sie kommen garantiert dran. Verlassen Sie sich drauf.
Gespräche mitgehört im Juli und August 2022.
© Ruth Rockenschaub
Freundlichst unterstützt durch www.studiofunk.de
Wer nicht lesen will, muss hören!
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