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Oh, mio Dio! Rollenspiel mit Flugente.

Hin und wieder werde ich mit der Nase darauf gestoßen, wie emotional verwirrend und anspruchsvoll weibliche Existenzen sein können. Frauen setzen sich kaum glaublichen Prüfungen aus, nur, um sie dann beherzt und lässig zu bestehen.


Vom Thema Unboxing haben Sie wahrscheinlich schon gehört oder sich gar eines dieser hoch frequentierten Videos im Internet angesehen. Im Grunde geht es darum, dass sich Menschen beim Auspacken von Dingen, die sie kaufen oder per Post erhalten, filmen, und die Ergebnisse veröffentlichen. Das Ganze gibt es seit etwa anderthalb Jahrzehnten, und nach dem ersten Mobiltelefon, das damals entpackt wurde, folgten Rechner, Kosmetika, Kleidung, Haushaltsgegenstände, Spielzeuge in allen Variationen und andere Lebenswichtigkeiten.


Die Gesamtklickzahlen bewegen sich im zweistelligen Millionenbereich und die Unboxer kommen aus der ganzen Welt und jeder Altersgruppe. Zu Beginn der Bewegung damals haben hauptsächlich Männer ausgepackt, aber das hat sich gelegt. Schließlich sind Frauen für das Wegräumen von Verpackungsmaterial besser geeignet.


Kürzlich durfte ich eine etwa Achtjährige online dabei beobachten, wie sie, während des Auspackens eines Plüschtiers, stimmlich einen Soundtrack ablieferte, der Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt des kuscheligen Schmuseobjekts mühelos und glaubhaft wiedergab. Unbefleckt.


Und damit sind wir beim Thema: Ich stolpere also über ein Unboxing-Video und reihe mich ein in die, bisher, siebenstellige Zahl an Zuschauern. Gottlob spricht die Hauptdarstellerin eine Sprache, die ich nicht verstehe. Die Bilder sind mir Information genug.

Wir sehen eine junge Frau, die ein Baby im Arm hält, von dem wir nur das Mützchen erkennen, weil es recht warm eingewickelt ist. Hin und wieder, wenngleich nicht wirklich feinfühlig, tätschelt sie den Po des Kindes. Währenddessen erklärt sie etwas und sieht ausgesprochen glücklich aus.


Schnitt.


Das Baby ist verschwunden. Von der Dame sehen wir nur die Hände. Auf einem Tisch eine größere Paketschachtel in Hellblau. Die Hände sind dabei, den Karton mit einer Schere zu öffnen.

Da die Seitenwand, an der entlang der Schnitt verläuft, mit dem Bild eines kleinen Kindes versehen ist, das mit seinem Fläschchen in der Hand schläft, wirkt der recht energische Ratscher mitten durch das goldige Gesichtchen ein wenig brutal.

Die Frau redet ohne Punkt und Komma. Wir sind bei über zwei Minuten Spieldauer, als endlich der Deckel gelüftet wird. Weißes Packpapier. Darunter zunächst ein hellblauer DIN A4-Umschlag aus Plastik. Er scheint irgendwelche Papiere zu enthalten. Die ausgesprochen geschmackvoll manikürten Hände legen ihn zur Seite.


Die Stimme der Frau klingt plötzlich aufgeregter. Musik setzt ein und untermalt das trockene Rascheln beim Entnehmen von nicht weniger als zehn einzelnen Päckchen, die der Sendung beigefügt wurden. Sie sind von blau gestreiftem Geschenkpapier umhüllt und, eher unfachmännisch, mit weißen Bändern umwickelt.

Zu guter Letzt hebt die Entpackerin den größten Bestandteil der Sendung aus dem Karton und hält ihn in die Kamera. Sie befühlt die halb durchsichtige Blasenfolie, die in mehreren Schichten etwas umschließt, bei dem es sich, gemessen an Farbe und Form, um eine tiefgefrorene polnische Flugente handeln dürfte. Sie scheint ganz schön kräftig zu sein.


Schnitt.


Wir sehen nun auf eine weiße Oberfläche. Die Dame spricht lebhaft aus dem Off, die gepflegten Hände sind im Bild. Sie gestikulieren beredt und ausdrucksstark.

Videos von gestikulierenden Händen, und zwar ausschließlich von Händen, sind übrigens ein finanziell sehr lohnendes Internetgeschäft. Aber das wäre ein anderer Beitrag.

Nun wird ein Schnuller ausgepackt und von allen Seiten betastet. Da ist eine Menge Hand im Spiel.


Das slawische Tiefkühlgeflügel ist momentan außer Sichtweite. Allerdings werden endlich die blau gestreiften Päckchen in Angriff genommen. Im ersten ein Babystrampler, dann ein Kleidungsstück, dessen fachlich richtige Bezeichnung ich nicht kenne, auf dem aber kleine Erdnuss geschrieben steht, little peanut, weiters Textilien in kleinen Größen ohne Beine, aber mit Giraffe.

Die immer wiederkehrende Musik, es handelt sich um einen relativ kurzen Loop, geht einem mittlerweile ganz schön auf die Nerven. Mal sehen, wann sich der polnische Vogel zu wehren beginnt.


Was aus der nächsten Verpackung gezaubert wird, erkenne ich nur unter Schwierigkeiten: Eine Pappbox, darauf Zeichnungen: Ein menschlicher Kopf, ein Bein und ein Rumpf, jeweils mit einem Gittermuster versehen. Ein leichter Touch Schweigen der Lämmer, aber in Wirklichkeit bin ich absolut ahnungslos und sehe inzwischen, rein intuitiv und aus Zeitgründen, irgendwie schwarz für die Zubereitung des Geflügelgerichts.


Bei knapp sechs Minuten präsentiert sich ein monströser Babyeinteiler, weißer, dicker Strick mit Bogenmotiv, das schrecklich auftragen wird. Ich muss unbedingt googeln, woher der Begriff hinten ist die Ente fett kommt.


Schnitt.


Es ist angerichtet! Neben einigen der bereits bekannten Päckcheninhalte werde ich einer Nagelschere, einer OP-Maske und eines Gummihandschuhs gewahr. Ich hoffe, niemand leidet unter Geflügelpest.


Die Hände wedeln wieder, ohne Luft zu holen. Siebeneinhalb Minuten und ein entpacktes Mützchen später klärt sich dann doch die Sache mit dem Zeug aus der Pappbox: Gaze mit Klemme und Desinfektionsmittel. Aha! Wahrscheinlich soll dem Flattermann etwas abgeschnürt werden. Hals oder Bürzel bieten sich doch an.


Im hellblauen Umschlag von vorhin befinden sich eine noch auszufüllende Geburtsurkunde und ein anderes Papier, auf dem offenbar Größe und Gewicht eingetragen werden sollen. Das kann ja bei Exemplaren aus Polen erheblich sein. Dass tiefgefrorenes Geflügel allerdings meldetechnisch erfasst werden muss, wäre mir neu. Klingt aber ökologisch. Auf einem der beiden Formulare sehen wir die Abdrücke von Babyfüßchen, die mich momentan stark verunsichern.


Schnitt.


Das blasenfolierte, reglose Geflügel liegt auf dem Tisch. Die Dame des Hauses befühlt den nach wie vor fest verschnürten Klumpen erneut und bewegt die Hände kreisend darüber, als wolle sie einem geheimen Zauber Nachdruck verleihen.

Kadavervoodoo.


Endlich beginnt sie, untermalt von romantischer Klavieretüde, das raschelnde, vielschichtige Verpackungsmaterial zu öffnen. In Zeitlupe. Warum sie die Blasenfolie an diese Stelle zärtlich zwischen zwei Finger nimmt und sanft massiert, erschließt sich mir nicht wirklich.

Immerhin wird es anderweitig spannend: Die polnische Flugente, und das ist in diesem Moment unschwer zu erkennen, hat einen unverhältnismäßig großen, runden Kopf voller schwarzer Haare. Ein Versuchstier aus den okkulten Kellern des Elon Musk?

Die Folie wird in demonstrativer Ultra Doppelslowmotion sukzessive entfernt.

Und plötzlich entströmt dem Munde der anhaltend glücklichen Frau ein deutliches Oh, mio Dio!

Das verstehe sogar ich! Vermutlich fordert sie göttlichen Beistand ein, denn in dieser Sekunde werden schlagartig drei Dinge glasklar:

Erstens: Polen ist verloren.

Zweitens: Mein Interesse für die Flugente hat sich mittlerweile komplett erledigt.

Drittens: Das Essen fällt heute aus.

Vor uns liegt nämlich kein aus dem Hoheitsgebiet unseres östlichen Nachbarn stammendes Flügeltier in XXL, nein! Es ist, ganz im Gegenteil, Trommelwirbel, ein lebensgroßer, menschlicher Fötus in typisch embryonaler Haltung, untergebracht in einer eng anliegenden, transparenten Fruchtblase, die mit Flüssigkeit gefüllt und einem Gummiband verschlossen ist.

Mir fehlen die Worte, und ich gerate in gefährliche Nähe einer hormonellen Entrückung.


Das irreführend echt wirkende Wesen scheint durchblutet. Wir erkennen Hautrötungen, sein männliches Geschlechtsteil und jedes einzelne, fruchtwassernasse Haar.

Das ist nicht naturnah. Das ist zutiefst in den Schatten gestellte, mattgesetzte und abgehängte Schöpfung.


Ich bin mir nicht sicher, ob es so aussehen muss, als würde sich das Kind entsetzt die Hände vors Gesicht schlagen und die Augen fest zuhalten.

Die junge….Gebärende wirkt ein wenig unerfahren.

Das hyperrealistische Geschöpf wird, noch immer in der schützenden Blase befindlich, betatscht und gedrückt und gedreht, und hoffentlich wird ihm dabei nicht übel.

Wir erkennen die Ohren. Eine weißliche Nabelschnur leuchtet durch die pergamentbraune Hülle.

Oh! Nur noch eine Minute bis zum Ende des Videos. Was kann denn da noch kommen?!?

Ahhh! Die Schere wird ins Bild gehalten!

Sie wird doch nicht etwa mit einer Nagelschere…..?

Ach so! Cliffhanger!


Ich mache mich schnurstracks auf die Suche nach Teil zwei, um ja nichts zu versäumen. Den sehe ich mir in doppelter Geschwindigkeit an, um den Geburtsvorgang zu beschleunigen und die Wehen für die sprechenden Hände zu erleichtern.

Folgende Bestandteile:

Wir hören einen Herzton, die OP-Maske wird aufgesetzt.

Die Händefrau trägt einen weißen Kittel. Ungebügelt. Sie streicht sich über ihre darin untergebrachten Brüste und weist ihre medizinische Legitimation durch ein Namensschild aus. Darauf steht: VOLONTARIO CLOWN ANATOMINA.

Mir schwirrt der Kopf. Vor einer Minute noch mitten in der Niederkunft, jetzt auf einmal medizinisches Personal und Stimmungskanone?

Wann kommt denn der lustige Teil? Oder war der schon?


Völlig unvorbereitet höre ich das Wort Role play. What!? Rollenspiel mit einem Säugling? Also, da bin ich unwissend und will es bleiben! Mio Dio!

Nun faltet die Dame ihre Hände als wolle sie beten und sagt etwas von facebook. Diese Kombination wiederum verstehe ich.

Jetzt reibt sie sich die, hoffentlich desinfinzierten, Hände. Oh! Geburtstag und Geburtszeit werden eingeblendet. Bevor das Kind die Dunkelheit der Welt überhaupt erblickt hat? Erstaunlich. Im Filmgeschäft wäre das ein Anschlussfehler.


Klammer und Gaze sind entpackt. Dann wird, und es ist es tatsächlich die Nagelschere, die ihren angetriggerten Einsatz bekommt, die Fruchtblase aufgeschnitten. Deren Festigkeit erinnert mich an die Plastikfolie von Mineralwassergebinden aus dem Supermarkt. Zu dick. Zu störrisch. Also knapp vor Neopren.


Als die gequälte Kreatur endlich teilbefreit ist, verdeckt Frau ANATOMINA gnädig das Ende der Nabelschnur, an dem schließlich keine Mutter zu finden ist. Eine menschlich schöne Geste, zumal selbst in erhöhter Geschwindigkeit alles länger dauert als nötig. Die Schere ist sichtbar stumpf. Bereitet man sich heutzutage so auf eine Geburt vor?

Die lebensechte Reproduktion scheint immerhin keinen Schmerz zu verspüren. Aber das sagt man ja auch von toten Flugenten, und es stimmt nicht.

Schließlich entweicht das Fruchtwasser und durchtränkt eine untergelegte Windel, die sich wiederum auf der bereits erwähnten Blasenfolie befindet. Ein Kreißsaal auf Höhe der Zeit. Ich bin mittlerweile ganz andächtig.


Das mutterseitig verwaiste, einsame Ende der Nabelschnur ist inzwischen mit Plastikfolie umwickelt. Ein vielsagendes Bild. Dann wird das familiäre Verbindungskabel endgültig in seiner Mitte durchtrennt.

Schnitt.

Ein Schriftbild.

Der Junge heißt offenbar Leo und hat eine kräftige Stimme. Sie kommt allerdings nicht aus seinem Mund, sondern aus dem Off. Er wird, allem Anschein nach, schon in so unschuldigem Alter von Mutti synchronisiert. Das Schicksal vieler Jungen.

Das Gesicht des Neugeborenen wird nun trockengetupft. Der Kleine liegt mittlerweile nackt direkt auf der Blasenfolie und wirkt, wenn man ganz ehrlich sein soll, ein wenig vernachlässigt.

Warum scheint niemandem aufzufallen, dass nur noch das Klavier zu hören ist? Der Herzschlag ist verschwunden, die prägnante Neugeborenenstimme erloschen. Ich sehe auch, dass der Kopf des Kindes nicht so richtig auf dem Hals sitzt. Er ist leicht zu einer Seite verrutscht.

Na ja, gut, die Geburt war schwer, Mutter und Kind sind erschöpft.


Lassen Sie uns, dessen ungeachtet, mit Genugtuung und Stolz würdigen, was angesichts des Enthusiasmus einer einzigen Frau ganz ohne Sex so alles rauskommen kann. Respekt.


© Ruth Rockenschaub

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